Stellungnahme BVKJ zur 14. Empfehlung der Krankenhaus-Regierungskommission "Krankenhausversorgung in Deutschland 2035: Zielbild der Reformen – zukünftige Aufgaben und Bedeutung der Krankenhäuser"
In Zukunft in die Klinikambulanz statt in die Facharztpraxis?
Krankenhauskommission will ambulante Versorgung durch niedergelassene Spezialist*innen abschaffen - keine gute Idee!
Die 2022 von Bundesgesundheitsminister Lauterbach eingesetzte „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ hat ihre Tätigkeit mit der Veröffentlichung ihrer 14. Stellungnahme abgeschlosseni. Diese entwirft ein „Zielbild“ für die zukünftige Rolle der Krankenhäuser bei der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Dabei wird erneut die einseitige Perspektive der Kommission deutlich, der ganz offensichtlich die Expertise in der ambulanten Patientenversorgung fehlt. Neben Jurist*innen, Gesundheitsökonom*innen und Pflegewissenschaftler*innen sind fünf leitende Ärzte großer Kliniken in der Kommission vertreten – aber keine Person, die die Perspektive der Arztpraxen in den Entwurf der medizinischen Versorgung in Deutschland 2035 einbringen könnte.
Entsprechend scheint sich die Stellungnahme der Kommission streckenweise auch eher an den Interessen von Klinikbetreibern als an einer flächendeckenden und guten medizinischen Versorgung zu orientieren. Besonders deutlich wird das bei der Beschreibung von Level Ii-Krankenhäusern im urbanen Raum, die nach Vorstellung der Kommission die ambulante Weiterbehandlung auch dort übernehmen sollen, wo von Versorgungsengpässen keine Rede sein kann.
Statt allein um die notwendige Konzentration komplexer stationärer Leistungen in weniger, dann aber gut ausgestatteten Krankenhäusern, geht es um nichts weniger als die weitgehende Übernahme der ambulanten fachärztlichen Versorgung durch die Kliniken.
Praxen leisten den Hauptanteil der fachärztlichen Versorgung
Dabei wird ignoriert, dass heute 97 Prozent aller Behandlungen in Deutschland in ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgen (729 Millionen im Jahr), während 3 Prozent (18 Millionen Behandlungsfälle/Jahr) in Kliniken behandelt werdenii. Die Kosten der Krankenhausbehandlung pro Patient*in betragen dabei ein Vielfaches derjenigen in den Praxen. Auch wenn es immer wieder Kritik z. B. an Wartezeiten auf Termine in Facharztpraxen gibt (dieses Problem ist in Bezug auf Termine in Klinikambulanzen nicht geringer), sind die Patient*innen mit der Behandlung in den Arztpraxen sowohl in Bezug auf ihr Vertrauensverhältnis als auch die fachlichen Fähigkeiten des oder der Ärzt*in äußerst zufrieden (gut oder sehr gut: 90% bzw. 91 %).iii Die fachärztlichen Angebote der Praxen und der Spezialambulanzen der Kliniken ergänzen sich vielerorts sinnvoll.
Die Regierungskommission schlägt trotzdem vor, die fachärztliche Behandlung in Zukunft überwiegend an die Kliniken zu verlagern. Den Praxen soll der ärztliche Nachwuchs abgeschnitten werden: „Es sollten Anreize geschaffen werden, damit Fachärztinnen und Fachärzte für ambulante und stationäre Behandlungen zukünftig vorrangig an Kliniken tätig werden.“
Dabei ist die Analyse der Regierungskommission auch aus BVKJ-Sicht in Teilen richtig: In Deutschland wird mit einem überdurchschnittlichen Einsatz von ärztlichem und pflegerischem Personal eine allenfalls durchschnittliche Behandlungsqualität erzielt. Es gib im internationalen Vergleich zu viele Kliniken und bei überdurchschnittlichen Krankenhauskosten zu viele stationäre Aufnahmen. Die Kosten der Kliniken pro Behandlungsfall haben sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt, gleichzeitig sind sie in den Praxen um 55% gestiegen. Während die Fallzahlen der Kliniken über die Jahre gleichbleibend sind, versorgen die Praxen rund 40 Prozent mehr Fälle als vor 20 Jahren.iv
Es bleibt das Geheimnis der Kommission, warum vor diesem Hintergrund dem ineffektiveren stationären System die ambulante Versorgung übertragen werden soll, anstatt die ärztlichen Praxen zu stärken, die derzeit hoch effizient den Löwenanteil der ambulanten Versorgung leisten.
Die Stellungnahme enthält gute Vorschläge, die über die dringend notwendige Konzentration von Krankenhauskapazitäten und die nachhaltige Finanzierung der Krankenhausinfrastruktur hinausgehen:
- Steuerung durch ein Primärarztsystem: Der Kommission ist darin zuzustimmen, dass ein Primärarztsystem mit der Steuerung von Patient*innen in für sie geeignete medizinische Angebote zur Vermeidung von Übertherapie und Überdiagnostik führen wird.
- Reform der Notfallversorgung: Die Reform der Notfallversorgung ist ebenfalls dringend anzugehen. Dabei darf aber nicht nur eine Entlastung der Kliniken von ambulant behandelbaren Fällen das Ziel sein. Vielmehr muss die gesamte medizinische Versorgung durch eine verpflichtende Ersteinschätzung und Steuerung der Patient*innen in für sie geeignete und notwendige Angebote ressourcenschonend genutzt werden. Der Aufbau neuer Parallelstrukturen ist nicht zu leisten.v
- Digitalisierung im Gesundheitswesen: Ohne Frage ist die digitale Vernetzung im deutschen Gesundheitswesen nicht zeitgemäß und birgt große Chancen. Auch die patientengeführte „elektronische Patientenakte“ (ePA) wird von Nutzen für die Patient*innen sein. Die Regierungskommission schreibt der ePA „eine zentrale Bedeutung [bei der] digitalen Vernetzung“ zu. Da irritiert es doch, dass sich nur eine Handvoll Kliniken an der Erprobung der ePA beteiligen. Kaum ein Krankenhaus in Deutschland ist an den Kommunikationsdienst KIM angeschlossen, über den alle Arztpraxen vernetzt sind und datensicher und schnell Patienteninformationen austauschen, während die Kliniken oft noch Fax und Post nutzen.
- Besonderheit der stationären Kinder- und Jugendmedizin und der Geburtshilfe: Die besondere Situation der stationären Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch pädiatrische und kinderchirurgische Fachkliniken sowie der Geburtshilfe wird dankenswerterweise von der Kommission hervorgehoben. In Zukunft sollten die Mittel zur Finanzierung der pädiatrischen Vorhaltekosten zielgenauer nur denjenigen Kliniken und Abteilungen zur Verfügung gestellt werden, die unter pädiatrischer und kinderchirurgischer Leitung stehen.
Eine Reform muss die Stärken der Praxen nutzen
Ohne Zweifel bedarf es erheblicher Reformen, um die ambulante und stationäre Versorgung der Bevölkerung in Deutschland in Zukunft weiterhin sicher zu stellen. Dabei geht es jedoch nicht darum, neue Tätigkeitsfelder und Einnahmequellen für die im Umbau befindlichen Kliniken zu finden, sondern um zukunftsfeste Lösungen für alle Bürger*innen. Es ist bestürzend, mit welcher Ignoranz hier das Engagement und die Leistung der Praxen mit ihren 780.000 Mitarbeitenden, die die Hauptlast der ambulanten Versorgung in Deutschland schultern, ausgeblendet wird.
Eine Reform der ambulanten Versorgung, die heute zu weit über 90% in ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgt, muss in ihrem Kern eine Verstetigung dieser bürgernahen Versorgung und eine in beide Richtungen durchlässige Verzahnung der Sektoren beinhalten. Die Regierungskommission schlägt aber letztlich vor, sie perspektivisch abzuschaffen und in die Hände der Kliniken zu legen. Eine neue Bundesregierung ist daher gut beraten, wenn sie bei der notwendigen Reform des deutschen Gesundheitswesens die Expertise aus den haus- und fachärztlichen Praxen mit einbezieht.
Quellen:
i www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/BMG_Regierungskommission_14te_Krankenhaus_2035.pdf
ii Kassenärztliche Bundesvereinigung, Faktenblatt: Leistungen und Kosten der ambulanten Gesundheitsversorgung. Stand: 11.03.2025, https://www.kbv.de/media/sp/kbv_faktenblatt_ambulante_versorgung.pdf
iii https://www.kbv.de/media/sp/2021_KBV-Versichertenbefragung_Berichtband.pdf
iv Behandlungsfälle ambulant: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/75869/umfrage/gesundheitanzahl-der-behandlungsfaelle-in-deutschland-seit-2004/; Fallzahlen Krankenhaus:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157058/umfrage/fallzahlen-in-deutschen-krankenhaeusern-seit1998/; Ausgaben Krankenhaus: https://www.vdek.com/presse/daten/d_ausgaben_krankenhaus.html;
Ausgaben ambulanter Sektor: https://www.vdek.com/presse/daten/d_ausgaben_aerztliche_behandlung.html
v https://www.bvkj.de/politik-und-presse/stellungnahme/stellungnahme-zum-referentenentwurf-eines-gesetzes-zur-reform-der-notfallversorgung-notfallgesetz-notfallg-362024/